Samstag, 18. Juni 2022

Friedrich Hölderlin und die poetische Kraft der Verwandlung (E)






Was Hölderlin als Dichter auszeichnet, ist seine ungeheuere Kraft der poetischen Verwandlung, fremde Welten in Poesie zu verwandeln und dem Leser in seiner Dichtkunst nahezubringen.

Hölderlin verwandelt durch seine Phantasie Traumwelten in Dichtung. Seine Traumwelten sind räumliche Fluchten aus der Realiltät des damaligen Herzogtums Württemberg.


Hölderlin

Hölderlin - ein Dichter der Revolution



Eigentlich sollte Friedrich Hölderlin Pfarrer werden. Die fromme Mutter drängt den Jungen zur Theologie. Doch im Stift zu Tübingen rebelliert er gegen die strenge Disziplin ebenso wie gegen die herrschende Willkür im Land. Die Revolution in Frankreich 1789 hallt auch in die Enge der Tübinger Gemäuer.

»Ich duld es nimmer! ewig und ewig so/Die Knabenschritte, wie ein Gekerkerter/Die kurzen, vorgemeßnen Schritte/Täglich zu wandeln, ich duld es nimmer!«

Friedrich Hölderlin


Friedrich Hölderlin wollte der Dichter der Revolution sein und Anhänger ihrer Ausweitung auf Deutschland. Und er hat Friedrich Schiller als den deutschen Dichter der Freiheit zutiefst verehrt - als einen der beiden großen Dichterfürsten in Weimar, die klassisch geworden sind. Doch die Klassiker standen der großen Französischen Revolution skeptischdistanziert gegenüber. Und so klassisch werden, wie sie, wollte Hölderlin nicht.

Er dachte anders mit seinem »Hyperion« unter die Deutschen zu kommen: Gewiss er kämpfte vor allem um seine Anerkennung als Dichter – aber als Dichter einer württembergischen Revolution. Und er gehörte auch zu denen, die sie politisch planten. »Wenn’s sein mus, so zerbrechen wir unsere unglücklichen Saitenspiele, und thun, was die Künstler träumten«, schrieb er an den Freund Neuffer.

Eine französische Armee stand in Württemberg, doch das Direktorium in Paris wollte diese württembergische Revolution 1799 nicht. Sie findet nicht statt. Seinen Empedokles lässt Hölderlin rufen: »Diß ist die Zeit der Könige nicht mehr!« Er hat sein Theaterstück zur Feier der vergeblich erhofften württembergischen Revolution nach dem Frühjahr 1799 nie zu Ende geschrieben. Es gab nun keinen Ort, es aufzuführen.

Napoleon Bonaparte wurde Kaiser der Franzosen. Die heroischen Jahre der großen Revolution - auch blutige Jahre, in denen schon sie ihre Kinder fraß - waren vorbei.

»Hyperion« von Friedrich Hölderlin

Hyperion

Hyperion

"Wo ein Volk das Schöne liebt, wo es den Genius in seinen Künstlern ehrt, da weht wie Lebensluft ein allgemeiner Geist, da öffnet sich der scheue Sinn, der Eigendünkel schmilzt, und fromm und groß sind alle Herzen, und Helden gebiert die Begeisterung." Hölderlins "Hyperion" entfacht wahrhaftig eine freudige Erregung, ob der wunderschönen Sprache und der tiefen Reflexionen über die Frage nach der Selbstverwirklichung im Spannungsverhältnis von Ideal und Wirklichkeit. "Wie die Zephyre irrte mein Geist von Schönheit zu Schönheit selig umher. (...) Und all dies war die Sprache eines Wohlseins..."



"Die Sprache ist ein großer Überfluss. Das Beste bleibt doch immer für sich und ruht in seiner Tiefe wie die Perle im Grunde des Meers.", schreibt Hyperion an Bellarmin. Friedrich Hölderlin macht diese Perle seinem Leser zugängig. Man muss gar nicht so tief nach ihr tauchen.

"Es ist ein köstlich Wohlgefühl in uns, wenn so das Innere an seinem Stoffe sich stärkt, sich unterscheidet und getreuer anknüpft und unser Geist allmählich waffenfähig wird."

Aus der Rückschau korrespondiert der Titelheld mit einem gewissen "Bellarmin" über Ereignisse in Griechenland zur Zeit der Griechisch-Türkischen Kriege. Eine große, rückwärtsgewandte Sehnsucht nach einem verlorenen Ideal, ist Hyperion, dem literarischen Helden, zu Eigen, die das "Geschehen" in einem zentralen Konflikt leitet. Diotima und Alabander inszeniert Hölderlin als Kontrastfiguren, an denen sich Hyperion aufreizt. Da ist zum einen die Inbrunst an die Geliebte und Rückzug in das private Glück des Idylls versus militanter Einsatz für eine bessere Welt im Bund mit dem besten Freund.

Die Disharmonien und Kontroversen führen zur Auslöschung der Kontrastfiguren, so dass schließlich der desillusionierte Hyperion allein überlebt und in Deutschland unter all den "Barbaren von alters her (...), tief unfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum Glück der heiligen Grazien (...), dumpf und harmonielos wie die Scherben eines weggeworfenen Gefäßes" sein Credo resignativ gebrochen zu Papier bringen kann.

Es ist mehr eine psychologische Autobiographie, eines hochintelligenten und sensiblen Menschen, der sich hinter seiner "Fiktion" versteckt.

Wie Nietzsche ist Hölderlin wohl durch eine harte Kindheit gegangen, auch wenn er dies immer verleugnet hat, auch vor sich selbst (ersterer hat seinen Wut dann auf die Gesellschaft "entladen" und so wichtige Erkenntnisse gewonnen, letzterer ist der Wirklichkeit "entflohen"). Hier wurzelt dann auch sein Seelenleid, der dieses Genie leider von Innen aufgefressen hat. Was er in diesem Buch beschreibt, ist die typische Gefühlslage und Geschichte derartiger Menschen.

"Wir sind‘s, wir! Wir haben unsere Lust daran, uns in die Nacht des Unbekannten, in die Fremde irgendeiner andern Welt zu stürzen und wär es möglich, wir verließen der Sonne Gebiet und stürmten über des Irrsterns Grenzen hinaus."


aus „Hyperion“, Friedrich Hölderlin
Was bleibt, ist ein Leben, welches die deutsche Sprache zumindest teilweise beeinflusst, aber noch viel mehr bereichert hat. Zu Lebzeiten vergessen, kam er danach zu Ruhm, doch heute ist er wieder nur ein obskurer Autor, da er schlicht und einfach kein massenkompatibles Werk hinterlassen hat. Das unterscheidet ihn von Goethe und Schiller, die aber - es tut mir leid - um einiges "langweiliger" sind. In einem anderen, besseren Leben wäre er vielleicht ein großer Naturforscher oder ähnliches geworden, und hätte sich nicht hinter der "Poesie" versteckt, um die Realität zu verdrängen!

Literatur:

Hyperion

Hyperion

Samstag, 21. Mai 2022

»Der Frühling« von Friedrich Hölderlin

Frühling





Die Sonne glänzt, es blühen die Gefilde,
Die Tage kommen blütenreich und milde,
Der Abend blüht hinzu, und helle Tage gehen
Vom Himmel abwärts, wo die Tag´ entstehen.

Das Jahr erscheint mit seinen Zeiten
Wie eine Pracht, wo sich Feste verbreiten,
Der Menschen Tätigkeit beginnt mit neuem Ziele,
So sind die Zeichen in der Welt, der Wunder viele.

»Der Frühling« von Friedrich Hölderlin


Samstag, 14. Mai 2022

»Der Einzige« von Friedrich Hölderlin


Was ist es, das
An die alten seligen Küsten
Mich fesselt, daß ich mehr noch
Sie liebe, als mein Vaterland?
Denn wie in himmlischer
Gefangenschaft gebückt, dem Tag nach sprechend
Dort bin ich, wo, wie Steine sagen, Apollo ging,
In Königsgestalt,
Und zu unschuldigen Jünglingen sich
Herabließ Zevs, und Söhn in heiliger Art
Und Töchter zeugte
Stumm weilend unter den Menschen.

Der hohen Gedanken aber
Sind dennoch viele
Gekommen aus des Vaters Haupt
Und große Seelen
Von ihm zu Menschen gekommen.
Und gehöret hab ich
Von Elis und Olympia, bin
Gestanden immerdar, an Quellen, auf dem Parnaß
Und über Bergen des Isthmus
Und drüben auch
Bei Smyrna und hinab
Bei Ephesos bin ich gegangen.

Viel hab ich Schönes gesehn
Und gesungen Gottes Bild
Hab ich, das lebet unter
Den Menschen. Denn sehr, dem Raum gleich, ist
Das Himmlische reichlich in
Der Jugend zählbar, aber dennoch,
Ihr alten Götter und all
Ihr tapfern Söhne der Götter,
Noch einen such ich, den
Ich liebe unter euch,
Wo ihr den letzten eures Geschlechts,
Des Hauses Kleinod mir
Dem fremden Gaste bewahret.

Mein Meister und Herr!
O du, mein Lehrer!
Was bist du ferne
Geblieben? und da
Ich sahe, mitten, unter den Geistern, den Alten
Die Helden und
Die Götter, warum bliebest
Du aus? Und jetzt ist voll
Von Trauern meine Seele
Als eifertet, ihr Himmlischen, selbst,
Daß, dien ich einem, mir
Das andere fehlet.

Ich weiß es aber, eigene Schuld
Ists, denn zu sehr,
O Christus! häng ich an dir,
Wiewohl Herakles Bruder
Und kühn bekenn ich, du
Bist Bruder auch des Eviers, der einsichtlich, vor Alters
Die verdrossene Irre gerichtet,
Der Erde Gott, und beschieden
Die Seele dem Tier, das lebend
Vom eigenen Hunger schweift' und der Erde nach ging,
Aber rechte Wege gebot er mit Einem Mal und Orte,
Die Sachen auch bestellt er von jedem.

Es hindert aber eine Scham
Mich, dir zu vergleichen
Die weltlichen Männer. Und freilich weiß
Ich, der dich zeugte, dein Vater ist
Derselbe. Nämlich Christus ist ja auch allein
Gestanden unter sichtbarem Himmel und Gestirn, sichtbar
Freiwaltendem über das Eingesetzte, mit Erlaubnis von Gott,
Und die Sünden der Welt, die Unverständlichkeit
Der Kenntnisse nämlich, wenn Beständiges das Geschäftige überwächst
Der Menschen, und der Mut des Gestirns war ob ihm. Nämlich immer jauchzet die Welt
Hinweg von dieser Erde, daß sie die
Entblößet; wo das Menschliche sie nicht hält. Es bleibet aber eine Spur
Doch eines Wortes; die ein Mann erhaschet. Der Ort war aber

Die Wüste. So sind jene sich gleich. Voll Freuden, reichlich. Herrlich grünet
Ein Kleeblatt. Ungestalt wär, um des Geistes willen, dieses, dürfte von solchen
Nicht sagen, gelehrt im Wissen einer schlechten Gebets, daß sie
Wie Feldherrn mir, Heroen sind. Des dürfen die Sterblichen wegen dem, weil
Ohne Halt verstandlos Gott ist. Aber wie auf Wagen
Demütige mit Gewalt
Des Tages oder
Mit Stimmen erscheinet Gott als
Natur von außen. Mittelbar
In heiligen Schriften. Himmlische sind
Und Menschen auf Erden beieinander die ganze Zeit. Ein großer Mann und ähnlich eine große Seele
Wenn gleich im Himmel.

Begehrt zu einem auf Erden. Immerdar
Bleibt dies, daß immergekettet alltag ganz ist
Die Welt. Oft aber scheint
Ein Großer nicht zusammenzutaugen
Zu Großem. Alle Tage stehn die aber, als an einem Abgrund einer
Neben dem andern. Jene drei sind aber
Das, daß sie unter der Sonne
Die Jäger der Jagd sind oder
Ein Ackersmann, der atmend von der Arbeit
Sein Haupt entblößet, oder Bettler. Schön
Und lieblich ist es zu vergleichen. Wohl tut
Die Erde. Zu kühlen.

»Der Einzige« von Friedrich Hölderlin

Samstag, 26. März 2022

»Der Frühling« von Friedrich Hölderlin

Frühling





Die Sonne glänzt, es blühen die Gefilde,
Die Tage kommen blütenreich und milde,
Der Abend blüht hinzu, und helle Tage gehen
Vom Himmel abwärts, wo die Tag´ entstehen.

Das Jahr erscheint mit seinen Zeiten
Wie eine Pracht, wo sich Feste verbreiten,
Der Menschen Tätigkeit beginnt mit neuem Ziele,
So sind die Zeichen in der Welt, der Wunder viele.

»Der Frühling« von Friedrich Hölderlin


Donnerstag, 24. März 2022

Friedrich Hölderlin zieht in den Turm (K)

Friedrich Hölderlin


Für Friedrich Hölderlin wendete sich im Jahr 1807 das Schicksal zum Besseren. Er wurde aus der Autenrieth‘schen Anstalt in Tübingen als unheilbar entlassen und von dem Schreinermeister Zimmer für den Rest seines Lebens in einem Turmzimmer untergebracht. Nach Ansicht des Arztes sollte er noch höchstens drei Jahre zu leben haben, seine Zeit im Turm dauerte dann aber 36 Jahre - man kann von seiner zweiten Hälfte des „Lebens” sprechen.

Wie er in das Autenrieth‘sche Klinikum kam

Am 11. September 1806 wird Hölderlin von kräftigen Männern aus Homburg abgeholt. Er trug in dieser Zeit den Titel ‚Hofbibliothekar‘, die Anstellung begleitete er jedoch nur proforma, sie wurde von seinem treuen und aristokratischen Freund Isaak von Sinclair finanziert. Hölderlins Verhalten war schon in mehrfacher Hinsicht auffällig gewesen, Anfälle von Schwermut wechselten mit Zuständen voller Unruhe und Unrast. Schon ab 1801 wird von Hölderlins Zerfahrenheit, von Sprachmanieren und einer gewissen Geschraubtheit berichtet, in den weiteren Jahren lösten sich Phasen manischer Erregtheit (‚Katatonie‘) mit solchen tiefer Apathie (‚Stupor‘) ab. Die Psychiatrie späterer Jahrzehnte wird dafür zuerst den Begriff der dementia praecox (vorzeitige Verblödung) und schließlich den der Schizophrenie (1911) finden.
Als die kräftigen Männer ihn in Homburg abholten, leistete Hölderlin Widerstand und es wurde Gewalt angewendet. Für die einen war das ein krankheitstypischer Anfall von Tobsucht, andere jedoch vermuten, Hölderlin habe geglaubt, dass er aus politischen Gründen inhaftiert werden würde. Diese Befürchtung war insofern berechtigt, als sein Freund Sinclair wegen Verdachts auf Hochverrats festgesetzt worden war. Andererseits war es Sinclair selbst gewesen, der in einem Brief an die Mutter in Nürtingen von Hölderlins „zunehmendem Wahnsinn“ (August 1806) schreibt und sie dazu auffordert, den Sohn zu sich zu nehmen. So kann vermutet werden, dass Hölderlin auf Veranlassung Sinclairs und zu seinem eigenen Schutze nach Tübingen gebracht und in die dortige ‚Irrenanstalt‘ eingeliefert wurde.

Was ihm dort widerfuhr

Diese Irrenanstalt unter Leitung des Professors und späteren Kanzlers der Universität Tübingen, Johann Ferdinand von Autenrieth, stellte in ihrer Art etwas Neues dar, denn hier wurden Geisteskranke nicht mehr nur aufbewahrt, sondern einer eigenen Therapie unterzogen. Das darf als Fortschritt in der Geschichte der Psychiatrie gewertet werden. Auch verfügte das Klinikum über heizbare Räume und eine neuartige Luftumwälzkonstruktion, durch die frische Luft in die Krankenzimmer kam.
Die damaligen Therapien aber waren nach heutigen Maßstäben mehr Torturen als Kuren“: Kaltwasserbäder, Zwangsjacke, Gesichtsmaske stellten den einen Teil des Heilverfahrens dar, die Verabreichung von Beruhigungsmitteln (Digitalis, Opium, Belladonna) oder Reizmitteln den anderen Teil. Es ist nicht belegt, ob die Authenriet‘sche Maske oder die Zwangsjacke bei Hölderlin zum Einsatz kam, die Mixturen aus Fingerhut (Digitalis) und Tollkirsche (Belladonna) aber sehr wohl. Jedenfalls hat dies alles nicht zur Besserung seines Gesundheits- bzw. Geisteszustandes geführt, so dass Friedrich Hölderlin am 3. Mai 1807, nach 231 Tagen Klinikumsaufenthalt, als unheilbar aus der Anstalt entlassen und in die Obhut des Schreinermeisters Ernst Friedrich Zimmer gegeben wurde.

Hölderlin im Hause Zimmer

Dieser Schreinermeister war ein für damalige Verhältnisse gebildeter Mann, denn er las Bücher und mehr noch, er hatte Hölderlins Briefroman Hyperion“ gelesen und war begeistert.

Auch soll er von Kant, Fichte, Schelling, Novalis, Tieck und andern“ gesprochen haben, also von den angesagtesten und vielleicht schwierigsten Geistern der Zeit. Rückblickend schreibt Zimmer 1835, inzwischen zum Obermeister der Tübinger Schreinerzunft aufgestiegen:
„Ich besuchte Hölderlin im Clinikum und Bedauerte ihn sehr, daß ein so schönner Herlicher Geist zu Grund gehen soll. Da im Clinikum nichts weiter mit Hölderlin zu machen war, so machte der Canzler Autenrit mir den Vorschlag Hölderlin in mein Hauß aufzunehmen, er wüßte kein pasenderes Lokal.“ (StA 7,3, Nr. 528)

Er hatte das Haus am Neckar 1807 gerade erst erworben und im Erdgeschoss seine Schreinerei eingerichtet. Im Turm wurde ein Zimmer für Hölderlin hergerichtet, für Kost und Logis kam die Mutter in Nürtingen auf.
Der Student Wilhelm Waiblinger schreibt am 3. Juli 1822: „Wir stiegen eine Treppe hinauf, als uns gleich ein wunderhübsches Mädchen entgegentrat. Ich weiß nicht ob mich ein großes lebendiges Auge ... oder der allerliebste, zarte Hals und der junge, so liebliche Busen oder das Verhältnismäßige der kleinen Gestalt mehr entzückte, genug meine Blicke hingen trunken auf ihr, als sie uns fragte, zu wem wir wollten. Die Antwort ward uns erspart, denn eine offene Tür zeigte uns ein kleines, geweißnetes Amphi-theatralisches Zimmer, ohne allen gewöhnlichen Schmuck, worin ein Mann stand, der seine Hände in den nur bis zu den Hüften reichenden Hosen stecken hatte und unaufhörlich vor uns Complimente machte. Das Mädchen flüsterte, der ists!“ (StA 7,3)
Diese sicher sehr schwäbisch flüsternde Schönheit (der „isches“) war vielleicht Lotte Zimmer, des Schreinermeisters Tochter, zum damaligen Zeitpunkt neun Jahre alt. Sie widmete sich insbesondere nach dem Tode des Vaters dem kranken Dichter aufopfernd bis zu dessen Ende. Sie hat nie geheiratet und heute trägt eine Straße in Tübingen ihren Namen. Vater und Tochter schreiben in regelmäßigen Abständen Briefe an Hölderlins Mutter in Nürtingen, in denen sie den momentanen Zustand ihres Sohnes schildern und sich dabei auch für das Geld bedanken, das ihnen die Mutter allvierteljährlich zukommen lässt. So heißt es z.B. am 2. März 1813: „Hölderlin ist recht Brav und immer sehr Lustig. Die Pfeifenköpfe haben Ihn gefreudt die Sie die güte hatten mit zu schücken.“ Oder am 22. Februar 1814: „Ihr Lieber Hölderle ist so braf das mann Ihn nicht beßer wünschen kan.“ Und schließlich Lotte Zimmer am 17. Januar 1841 an Hölderlins Schwägerin: Ihr Herr Schwager ließ sich das überschickte recht wohl schmecken, Er befindet sich gegenwärtig recht wohl, ausgenommen daß Er Nachts oft sehr unruhig ist, was aber schon lange Jahre so ist ...“ (StA 7,3)

Wie es mit Hölderlin weiterging

Hölderlin verbrachte also den Rest seines Lebens im Turm. Er soll ein umgänglicher Bewohner gewesen sein, der sich sogar zu einer Attraktion für eine beträchtliche Zahl romantisch begeisterter Studenten entwickelte. Immer wieder kamen Besucher, die den armen irren Poeten im Turm sehen wollten. Hölderlin legte dann meist ein eilfertig unterwürfiges Verhalten an den Tag, verbeugte sich mehrfach tief und nannte die Gäste Excellenz und Majestät. Auf Wunsch verfasste er ein Gedicht, das Thema ließ er sich geben, dann stand er am Stehpult, skandierte mit der einen Hand das Metrum und schrieb mit der anderen Hand in kürzester Zeit ordentlich gereimte Verse. Diese unterschrieb er mit dem Namen Scardanelli oder Buonarotti und einem Fantasiedatum. Hier ein solches Gedicht, man beachte das Datum:

    Die Aussicht

    Der offne Tag ist Menschen hell mit Bildern,
    Wenn sich das Grün aus ebner Ferne zeiget,
    Noch eh‘ des Abends Licht zur Dämmerung sich neiget,
    Und Schimmer sanft den Glanz des Tages mildern.

    Oft scheint die Innerheit der Welt umwölkt verschlossen,
    Des Menschen Sinn, von Zweifeln voll, verdrossen,
    Die prächtige Natur erheitert seine Tage,
    Und ferne steht des Zeifels dunkle Frage.

    Mit Unterthänigkeit
    Scardanelli
    d.24ten Merz
    1871

Vermutungen über die Gründe seines Geisteszustandes gibt es verschiedene und sehr unterschiedliche. Die Debatten währten bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts, insbesondere angeregt durch die Thesen des französischen Hölderlin-Experten Pierre Berteaux: Ein revolutionär gesinnter Hölderlin, von der politischen Entwicklung in Deutschland enttäuscht, flüchtet sich bewusst in eine weltabgewandte Gedankenwelt hinein, um so der schlechten Wirklichkeit zu entkommen. Da diese These aber ein Thema für sich ist, soll hier kurzerhand Schluss gemacht werden mit dem letzten Satz aus Hölderlins Hyperion: „Nächstens mehr.“

Quellen: