Samstag, 10. Oktober 2020

Hölderlin-Rezeption

Holderlinjahr 2020


Ferner war er den Deutschen nie. Doch um ermessen zu können, hinter welchen Schleiern und durch welche Verzerrungen hindurch Friedrich Hölderlin heute zu den Wenigen spricht, die er in Bann schlägt, müsste man auch die Nähe nachempfinden, aus der sich einmal die Vielen ergriffen fühlten.

Frühere Leser waren mangels anderer Suchtstoffe für die prophetische Vagheit seiner Vision, deren rauschhafte Suggestivität auf einer rhythmischen Sprache von zwingender Genauigkeit beruht, vermutlich empfänglicher. Sicher gelang es ihnen aber auch besser, die Leerstelle zwischen Götterferne und der Aussicht auf einen „kommenden Gott“, die jede Generation auf ihre Weise herausfordert, mit Sinn zu füllen.

Hölderlin zu lesen, heißt deshalb mehr als für jeden anderen deutschen Dichter, seine Rezeptionsgeschichte mitzulesen. Das „weltanschauliche Gegrabsche“, das Karl-Heinz Ott in „Hölderlins Geister“ (Hanser 2019), einer brillanten Folge von Miniaturen und Kurzessays, nachzeichnet, ist keine Nebensache.


Das Vaterland ist treulos dir geworden - www.tagesspiegel.de/kultur


Hölderlins Werk lässt sich, ebenso wenig wie das von Heinrich von Kleist, in eine Schublade stecken. Er lebte und schrieb, als die später als Weimarer Klassik und Romantik bezeichneten Literaturgattungen en vogue waren. Doch entwickelte er, unabhängig von allen zeitlichen Einflüssen, seinen ganz eigenen, unverkennbaren Stil.

Friedrich Hölderins Werk hat über die Jahrhunderte hinweg eine ganz unterschiedliche Rezeption erfahren. Immer wieder wurde er dabei auch falsch interpretiert.

Erst das 20. Jahrhundert entdeckte seine tatsächliche Bedeutung, manche verklärten ihn sogar zu einem Mythos. Doch immer noch ist Friedrich Hölderlin der große Unbekannte unter den Klassikern der deutschen Literatur. Der 250. Geburtstag im März 2020 ist eine gute Gelegenheit, sich ihm und seinem Geheimnis zu nähern. Rüdiger Safranskis Biografie gelingt das auf bewundernswerte Weise.



Sehr lesenswerter Artikel über die unterschiedliche Hölderlin-Rezeption über die Jahrhunderte

Friedrich Hölderlin gehört zu den bedeutendsten deutschen Dichtern. Er hat neben dem »Hyperion« vor allem große Hymnen und Elegien geschaffen und eine außerordentliche poetische Strahlkraft entwickelt.

Die Deutschen verlangen offenbar immer noch nach Hölderlin, allerdings auch immer noch nach einem präparierten, einem dem Zeitgeist angepaßten Hölderlin. Und kein anderer Dichter läßt sich anscheinend so leicht für jede Laune des Zeitgeists reklamieren.

Friedrich Hölderlin hat mit seiner Dichtung im Sinne des deutschen Idealismus zahlreiche Geister ganz unterschiedlicher Coleur heraufbeschworen, die immer wieder versucht haben, den Dichter für sich zu vereinnahmen und für ihre Zwecke politisch zu instrumentalisieren.

Einerseits von Anfang an als deutschester unter den deutschen Dichtern gefeiert und gleich auch so etwas wie Religionsersatz, waren Ablehnung und Verkennung andererseits seine ständigen Begleiter.

Das begann mit Goethe, der riet, doch lieber kleinere, niedliche Gedichte statt der ausufernden hymnischen zu verfertigen. Und das ging weiter mit Friedrich Theodor Vischer, der über Hölderlin befand: "Sein Geist hatte zu wenig vom Harten; es fehlte ihm als Waffe der Humor; er konnte es nicht ertragen, daß man noch kein Barbar ist, wenn man Philister ist" (Nietzsche hat Vischer darauf beißend geantwortet: "Ersichtlich will der Ästhetiker uns sagen: Man kann Philister sein und doch Kulturmensch ...").

Nach den Philistern waren es die Übermenschen, die Elitebewußten, in deren Hände Hölderlin fiel: Vor allem der George-Kreis stilisierte ihn zum entrückten deutschen Parsifal; und nachdem sein erster wissenschaftlicher Editor, Norbert von Hellingrath, vor Verdun gefallen war, avancierte Hölderlin zum Symbol des vaterländischen Opfertodes.

Als dieses mußte er noch einmal im 2. Weltkrieg herhalten, wo die Landser neben der Feldpostausgabe von Rilkes "Cornet" auch die des "Hyperion" im Tornister nach Rußland schleppten. im festen Glauben, Hölderlins Welt gegen die anstürmenden bolschewistischen Barbaren zu verteidigen. Aber sie fielen nicht für Hölderlins Vaterland, sondern für den faschistischen Führer, dem Hanns Johst zum 50. Geburtstag aus dem "Hyperion" zitieren mußte.

Freilich, auch Stauffenberg berief sich auf Hölderlin, als er die Waffe gegen Hitler richtete, aber auch das Vaterland, das er und seine Freunde wollten, hätte mit dem Hölderlins (der geschrieben hatte, es sei "die erste Bedingung alles Lebens und aller Organisation, daß keine Kraft monarchisch ist") aber auch gar nichts zu tun gehabt.

Selbst als alles in Scherben lag, 1945, ging noch ein Sturm der Entrüstung durch das deutsche Bildungsbürgertum, als Günter Eichs Gedicht aus dem Gefangenencamp bekannt wurde, in dem sich Hölderlin auf Urin reimte. Da zog man doch Heideggers Hölderlin-Geraune vor, den Seher wollte man sich auf keinen Fall rauben lassen -- und sei es nun auch einer des Untergangs.

Mit dem vermeintlich revolutionären Aufbruch von 1968 änderte sich prompt auch das Hölderlin-Bild: Jetzt entdeckte man plötzlich (mit Hilfe des französischen Germanisten Pierre Bertaux) den Jakobiner Hölderlin, und der "schönheitstrunkene Schwärmer" (Eduard Spranger) wurde abserviert.

Weblink:

„Des hat uns grad ne g?fehlt!“ - DER SPIEGEL 49/1976