Samstag, 5. September 2020

Friedrich Hölderlin und seine Zeit


Hölderlin litt von Kindheit an, ähnlich wie Schiller, darunter, dem Landesherrn unmittelbar unterstellt zu sein, denn auch seine Eltern hatten ihn auf Klosterschulen geschickt und sich von diesem für ihren begabten Sohn ein Studium finanzieren lassen, verbunden mit der Verpflichtung, ihm dann später zu dienen, hier der Theologie und als Pfarrer.

Eigentlich sollte Friedrich Hölderlin Pfarrer werden. Die fromme Mutter drängt den Jungen zur Theologie. Doch im Stift zu Tübingen rebelliert er gegen die strenge Disziplin ebenso wie gegen die herrschende Willkür im Land. Die Revolution in Frankreich 1789 hallt auch in die Enge der Tübinger Gemäuer.

»Ich duld es nimmer! ewig und ewig so/Die Knabenschritte, wie ein Gekerkerter/Die kurzen, vorgemeßnen Schritte/Täglich zu wandeln, ich duld es nimmer!«

Friedrich Hölderlin

Um Hölderlin zu verstehen, begreift man ihn am besten als Kind seiner Zeit. Es war eine Zeit des Übergangs. Als die französischen Revolutionäre die Bastille stürmten, war Hölderlin 19 Jahre alt. Wie viele junge Deutsche schwärmte auch er von den Verheißungen der Freiheit. Doch die Begeisterung kippte bald in blankes Entsetzen. Die Französische Revolution mündete in eine Schreckensherrschaft – und schließlich im Krieg.

Um die Epochenwende 1800 sind es vor allem zwei Ereignisse, die für diese Epoche prägend sind und in ihr wie über sie hinaus nachhaltige Wirkung erzeugten: zum einen die Französische Revolution – zum anderen die Revolutionierung der Denkungsart durch die kritische Philosophie Kants. Nicht zu vergessen sind die Grundlagen der Industrialisierung, für die in dieser Zeit stellvertretend die Erfindung der Dampfmaschine durch James Watt steht.

Die durch das Datum der Französischen Revolution entfachte Begeisterung klingt bei Hölderlin zunächst so wieder: "Ich glaube an eine künftige Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten, die alles bisherige schaamroth machen wird." (Brief an J.G. Ebel vom 10. Jan. 1797). Knapp drei Jahre später folgt die realgeschichtliche Ernüchterung auf dem Fuß. Im November 1799 spricht Hölderlin (wieder in einem Brief an Ebel) von "der allmächtigen alles beherrschenden Noth" und endet mit: "Glüklich sind wir dann, wenn uns noch eine andere Hofnung bleibt! Wie finden Sie denn die neue Generation, in der Welt, die Sie umgiebt?"

Es war diese epochale Spannung zwischen revolutionärer Begeisterung und realgeschichtlicher Ernüchterung, in der die Denkanstöße aufgenommen wurden, die von Kants kritischer Philosophie und deren Forcierung durch Fichte ausgingen. Hölderlin gehört hier zusammen mit den beiden anderen Tübinger Stiftlern – dem 2020er Mitjubilar Hegel und mit Schelling – zu den prägendsten Akteuren.

Beredtes (und berühmtes) Zeugnis des Gesprächs zwischen den dreien ist das sogenannte "Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus." Hier findet sich (in Hegels Handschrift) die zur Sprache drängende Überzeugung formuliert, daß der "höchste Akt der Vernunft ein ästhetischer Akt" sei. Der "Philosoph" bedürfe "ästhetischen Sinn". Die "Poësie" bekomme dadurch "eine höhere Würde", sie "allein" werde "alle übrigen Wissenschaften und Künste überleben."

Damit ist der Doppelanspruch formuliert, der für Hölderlins Werk grundlegend geworden und geblieben ist: was "Dichtung" ist und sich als poetische Sprache mitteilt, erfolgt in Augenhöhe mit den avanciertesten Formen philosophischer Reflexion. Hatte schon Kant festgehalten, daß es "eigentlich die Dichtkunst ist, in welcher sich das Vermögen ästhetischer Ideen in seinem ganzen Maße" zeigt, so setzt Hölderlin das in poetische Sprachwirklichkeit um.
Friedrich Hölderlin, dessen 250. Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wird, war glühender Republikaner, für den die Französische Revolution, die er im Alter von 19 Jahren erlebte, ein Erweckungserlebnis war, welches für sein ganzes Leben bestimmend blieb.

Weblink:

Hölderlins "poetisches Geschäfft" - www.forschung-und-lehre.de

Samstag, 29. August 2020

Hölderlin-Orte (E)


Der Dichter Friedrich Hölderlin war unterwegs. Er wohnte in den ersten 36 Jahren seines Lebens an dreizehn verschiedenen Orten. Er unternahm große Wanderungen und reiste zu politischen Kongressen.

Die zweite Hälfte seines Lebens verbrachte er aber an einem Ort, dem heute als Hölderlinturm bekannten Wahrzeichen der Universitätsstadt Tübingen.


Lauffen am Neckar

Friedrich Hölderlin wurde als erstes Kind seiner Eltern am 20. März 1770 in Lauffen geboren.

Zahlreiche Aktivitäten und sehenswerte Punkte zum Dichter finden sich in der Stadt am Neckar.

Großvater und Vater des Dichters verwalteten den ehemaligen Klosterbesitz und wohnten im Amtshaus auf dem Klostergelände. 1970 wurde überraschend entdeckt, dass die Familie Hölderlin auch ein privates Haus besaß, das bis heute erhalten ist und nur geringfügig umgebaut wurde.

Dieses Haus wurde 2015 aus Privatbesitz von der Stadt Lauffen erworben. Es wird zur Zeit denkmalgerecht saniert und mit einer Dauerausstellung zum Dichter eingerichtet.

Am 20. März, dem 250. Geburtstag des Dichters, wird das Haus der Öffentlichkeit übergeben.

Der 2011 gegründete Hölderlin-Freundeskreis e. V. organisiert Veranstaltungen zu Hölderlin und seiner Zeit.




Weitere zahlreiche Aktivitäten werden das Jahr 2020 begleiten.

Lauffen am Neckar

Nürtingen

Tübingen

Denkendorf und Maulbronn

Waltershausen und Jena

Frankfurt

Kassel und Driburg

Homburg vor der Höhe

Stuttgart

Hauptwil und Bordeaux


Frankfurt

Er liebt (oder träumt zu lieben?) die Gemahlin eines Banciers in Frankfurt ("Susette Gontard" alias "Diotima"), in dessen Hause er als privater Hauslehrer arbeitet. Sie ist seiner idealisierenden Liebe nicht abgeneigt, verweigert jedoch aus bürgerlicher Sicherheitssucht die Scheidung. So wird er entlassen und muss am Ende bis nach Bordeaux gehen, um eine neue Anstellung zu finden.

Frankfurt


Samstag, 15. August 2020

Hölderlins Thüringischer Olymp


Nicht der Große Gleichberg, sondern in seinem Schatten der Kleine Gleichberg wurde 1794 vom Dichter Friedrich Hölderlin zum „thüringischen Olymp“ erhoben. Viele halten jedoch die etwas kleinere Bergspitze für die weitaus interessantere, nicht nur, weil diese Erhebung durch Friedrich Hölderlins Exkursion geadelt und zum thüringischen Olymp erhoben wurde.

Seine Verehrung Schillers zog ihn nach Jena. Dort hielt sich die Schloßherrin Charlotte von Kalb, geborene Marschalk von Ostheim (1761-1843) seit Monaten in Jena auf. Angeblich hatte sie Hölderlin dem Waltershäuser Schlosspersonal, Ehemann vermutlich inbegriffen, nicht angekündigt. Der Problematische, um das Missraten etwas abzuschwächen, sollte seinem Hofmeister „keine ruhige Stunde“ bereiten. Unter diesen Umständen, vor diesem Hintergrund ist Hölderlins Sonntagsexkursion vom 17. August 1794 auf den Kleinen Gleichberg als wohl viel eher erholsamer, beruhigender, ausgleichender Ausflug zu sehen.

In dem Brief vom 21. August 1794 aus Waltershausen berichtet er seinem Halbbruder Carl Christoph Friedrich Gock (1776-1849) davon:

»Lezten Sonntag war ich auf dem Gleichberge, der sich eine Stunde von Römhild über die weite Ebene erhebt. Ich hatte gegen Osten das Fichtelgebirge (an der Gränze von Franken und Böhmen), gegen Westen das Rhöngebirge, das die Gränze von Franken und Hessen, gegen Norden den Thüringer Wald, der die Gränze von Franken und Thüringen macht, gegen mein liebes Schwaben hinein, südwestlich, den Staigerwald zum Ende meines Horizonts.« 1

1 Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Bd. 6: Briefe/Text, 1. Hälfte 1, Stuttgart 1987, S. 132

Wanderung in der Thüringischen Rhön

Samstag, 8. August 2020

»Kindheit« von Friedrich Hölderlin


Da ich noch um deinen Schleier spielte,
Noch an dir wie eine Blüte hing,
Noch dein Herz in jedem Laute fühlte,
Der mein zärtlichbebend Herz umfing.
Da ich noch mit Glauben und mit Sehnen
Reich, wie du, vor deinem Bilde stand,
Deine Stelle noch für meine Tränen,
Eine Welt für meine Liebe fand;

Da zur Sonne noch mein Herz sich wandte,
Als vernähme seine Töne sie,
Und die Sterne seine Brüder nannte
Und den Frühling Gottes Melodie,
Da im Hauche, der den Hain bewegte,
Noch dein Geist, dein Geist der Freude sich
In des Herzens stiller Welle regte,
Da umfingen goldne Tage mich.

Tot ist nun, die mich erzog und stillte,
Tot ist nun die jugendliche Welt,
Diese Brust, die einst ein Himmel füllte,
Tot und dürftig wie ein Stoppelfeld;
Ach! es singt der Frühling meinen Sorgen
Noch, wie einst, ein freundlich tröstend Lied,
Aber hin ist meines Lebens Morgen,
Meines Herzens Frühling ist verblüht.

Ewig muß die liebste Liebe darben,
Was wir lieben, ist ein Schatten nur,
Da der Jugend goldne Träume starben,
Starb für mich die freundliche Natur;
Das erfuhrst du nicht in frohen Tagen,
Daß so ferne dir die Heimat liegt,
Armes Herz, du wirst sie nie erfragen,
Wenn dir nicht ein Traum von ihr genügt.


»Kindheit« von Friedrich Hölderlin

Samstag, 1. August 2020

»Patmos« Hymne von Friedrich Hölderlin


»Patmos« ist der Titel einer 1803 vollendeten Hymne von Friedrich Hölderlin. Der Erstdruck erfolgte 1808 im »Musenalmanach« von Leo von Seckendorff, gewidmet ist die Dichtung dem Landgrafen von Homburg. Das Gedicht ist nach der griechischen Insel Patmos benannt, die als Schöpfungsort der prophetischen Offenbarung des Johannes gilt.

Die ägäische Insel ist dem verfolgten Christen ein Zufluchtsort und kennzeichnet zugleich die apokalyptische Krisensituation. Bereits der Titel verweist so auf den esoterisch-eschatologischen Horizont des Textes, der ausgesprochen reich an verschlüsselten Zitaten und Anspielungen auf synthetisch miteinander verwobene biblische, christliche, griechische und lateinische Motive und Mythen ist.

Ähnlich den anderen Versdichtungen aus dem Spätwerk Hölderlins ist auch Patmos ein kühner Versuch der Deutung der Geschichte als fortgesetzter göttlicher Offenbarung. Sie ist Ausdruck des Scheiterns der frühromantischen politischen Träume, die nun in eine religiöse, geistige Sphäre sublimiert werden. Besonders nah steht die Hymne darin der Dichtung Der Einzige, aber auch den Gesängen Friedensfeier und Andenken.

Die Hymne war dem Landgraf gewidmet und gegen den württembergischen Landgrafen gerichtet. Dieser war über den Inhalt nicht erfreut.

Samstag, 18. Juli 2020

Friedrich Hölderlin und die Deutschen - Barbaren von Alters her?


Friedrich Hölderlin hatte ein schwieriges Verhältnis zu seinem deutschen Vaterland und so mangelt es auch nicht gerade an Deutschen-Schelte in seiner Lyrik.

Aus dem »Hyperion«: "So kam ich unter die Deutschen. Ich forderte nicht viel und war gefaßt, noch weniger zu finden. [...] Barbaren von Alters her, ..."

Hölderlin drängte es aus der Enge der bürgerlichen Konvention in die ferne Welt hinaus. Er sehnte sich nach einer Harmonie zwischen Mensch und Natur, wie er sie in einem idealisierten Bild des alten Griechenland erblickte und für die Zukunft wieder erhoffte.

Tief unzufrieden mit der unpoetischen, amusischen Gesinnung seiner deutschen Geschwister (»So kam ich unter die Deutschen. (...) Barbaren von Alters her, durch Fleiß und Wissenschaft barbarischer geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark«) träumte er sich lieber als hellenischer Musenjünger im Gedankenaustausch mit einem nur in seiner Phantasie existierenden Freunde - Bellarmin.

Wenn wir jetzt aus allen Teilen der Welt hören: wir Kindswürger und Mordbrenner seien Barbaren, Nachfahren der alten Hunnen […], dann fühlen wir guten Deutschen das Bedürfnis, uns vor den Feinden – denn was haben wir sonst – ins rechte Licht zu setzen, weisen das Ausland schüchtern darauf hin, daß wir doch eigentlich im Grunde das Volk Goethes seien.

Hölderlin war kein Philosoph, aktiver Weltverbesserer oder gar politischer Vordenker und taugt somit nicht als Ahnherr irgendwelcher späterer Denk- oder Gesellschaftssysteme, egal welcher Couleur. Letztendlich bleibt für uns heutige Menschen Hölderlins großartige Behandlung der deutschen Sprache, seine ungebändigte, nur schwer logisch oder gar akademisch zu deutende visionäre poetische Kraft: Ein genialer Dichter- nicht weniger, aber auch nicht mehr.



»Ich sage dir: es ist nichts Heiliges, was nicht entheiligt,
nicht zum ärmlichen Behelf herabgewürdigt ist bei diesem Volk.«


Friedrich Hölderlin: Hyperion an Bellarmin (1797)

In seinem Vortrag »Hölderlin und die Deutschen«(1915) sprach Norbert von Hellingrath, der Wiederentdecker Friedrich Hölderlins, von der „Doppelgesichtigkeit“ des deutschen Volks, die gerade jetzt, inmitten des Krieges, wieder besonders stark hervorzutreten scheine und für die vor allem Hölderlin einen besonderen Blick gehabt habe (Hellingrath 1922, S. 38).

Hellingrath hatte an der Universität München Germanistik studiert und 1909 in der Stuttgarter Bibliothek bisher unbekannte späte Hymnen und Pindar-Übertragungen Hölderlins entdeckt. Durch Vermittlung seines Freundes Karl Wolfskehl kam er ins Gespräch mit Stefan George, der ihm ermöglichte, seine spektakulären Funde in den Blättern für die Kunst zu veröffentlichen.

1912 begann Hellingrath mit der Herausgabe einer Hölderlin-Werkausgabe, deren erster Band im Jahr darauf erschien. Ihre Wirkung auf die literarische und wissenschaftliche Welt war außerordentlich. Ein bis dahin nur als Nebenfigur der Literaturgeschichte betrachteter Autor wurde mit einem Schlage als einer der bedeutendsten deutschen Dichter erkannt – wofür es in der deutschen Kulturgeschichte wohl nur eine Parallele gibt: die Wiederentdeckung Johann Sebastian Bachs durch Felix Mendelssohns Aufführung der Matthäus-Passion im Jahre 1829.

George erhob Hölderlin zu einem seiner ästhetischen Ahnherren und nahm Hellingrath in seinen Kreis auf. Ausgerechnet im Tumult des Krieges gelangten Hölderlins späte Gedichte und Fragmente ans Licht und bewegten die akademische Jugend so stark, dass sie nach den Worten von Klaus Mann glaubte, für ein „hölderlinsche[s] Deutschland […] sterben zu müssen“(Mann 1992, S. 199).

Der 1914 zum Kriegsdienst eingezogene Hellingrath kehrte im Frühjahr 1915 wegen eines Reitunfalls von der Front heim nach München. Hier hielt er in Anwesenheit unter anderem von Wolfskehl und Rainer Maria Rilke zwei Hölderlin-Vorträge, ehe er ins Feld zurückkehrte – und in der Schlacht um Verdun am 14. Dezember 1916, erst achtundzwanzigjährig, fiel. In seiner Rede »Hölderlin und die Deutschen«stellt er die Entdeckung Hölderlins vor den Hintergrund der antideutschen Kriegspropaganda:


Wenn wir jetzt aus allen Teilen der Welt hören: wir Kindswürger und Mordbrenner seien Barbaren, Nachfahren der alten Hunnen […], dann fühlen wir guten Deutschen das Bedürfnis, uns vor den Feinden – denn was haben wir sonst – ins rechte Licht zu setzen, weisen das Ausland schüchtern darauf hin, daß wir doch eigentlich im Grunde das Volk Goethes seien.

Dies sei ein Beleg dafür, dass die Deutschen keine stabile Selbsteinschätzung kennen, „ihres eigenen Selbstgefühls nicht sicher sind, wenn sie es nicht vom Mund der Nachbarn ablesen können“ – seien sie doch nun einmal unter den europäischen Nationen Emporkömmlinge, die sich üblicherweise nach dem Urteil der anderen richten.

Hellingrath verweist nun auf die „seltsame Doppelheit, die Wesen und Rätsel des Deutschen ist“, die „Doppelgesichtigkeit unseres Volkes“. Hier taucht eine Formel auf, die für den George-Kreis und sein Deutschland-Bild bis ins Dritte Reich prägend sein wird und für die bei Hellingrath der Name Hölderlins steht: Der Kern des „deutschen Wesens“ trete lediglich „in einem geheimen Deutschland zutage“, nämlich „in Werken, die immer nur ganz wenigen ihr Geheimnis anvertrauen, ja den meisten Nicht-Deutschen wohl nie zugänglich sind“. Sei Johann Wolfgang Goethe von seiner sozialen Herkunft und schließlich erreichten Lebensstellung her der wahre Repräsentant eines der gebildeten Mehrheit zugänglichen Deutschland, so sei der sozial immer am Rande stehende Hölderlin der Künder jenes „geheimen Reiches“, das sich nur wenigen erschließt (wie etwa den Mitgliedern des ungenannten George-Kreises). Entsprechend gibt es für Hellingrath nicht nur das „Volk Goethes“, sondern auch – unter der Oberfläche, im Innern des Landes – das „Volk Hölderlins“ (Hellingrath 1922, S. 15ff).

Hellingrath kontrastiert Hölderlins Gedichte und Fragmente, die um dieses innere Deutschland kreisen, mit der „berühmten Strafrede des Hyperion“ gegen die Deutschen, „die ihm [Hölderlin] selbst gewiß noch weher getan hat als den Lesern, denn er hatte es erlebt, und dieser Zorn ist eben ein heller Widerschein seiner glühenden Liebe für das unglückliche Vaterland“ (ebd., S. 36). In Hyperions Brief an Bellarmin drückt sich nach Hellingrath der „Zusammenstoß“ des geheimen mit dem wirklichen Deutschland aus, „das damals nicht viel anders war als heute“ (ebd.).

In seiner Strafpredigt – einer der schärfsten, die je gegen die Deutschen gerichtet wurde – vermisst der Protagonist in Hölderlins Hyperion bei letzteren gerade das, was die deutschen „Dichter und Denker“ des späten 18. Jahrhunderts – Immanuel Kant und Friedrich Schiller zumal – in den Mittelpunkt ihres Denkens gestellt haben: die Interesselosigkeit des Schönen, die auf den ganzen Menschen zielende Bildung statt der Abrichtung auf zweck-, nutz- und fachbestimmte Fertigkeiten. Hyperions Rede, aus der einige Kernstellen zitiert seien, lesen sich wie ein Gegenbrief zu Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen mit ihrer Autonomieerklärung und Ganzheitsbestimmung des Menschen.

Weblink:

Barbaren von Alters her? - Friedrich Hölderlin und die Deutschen - www.lieraturkritik.de

Hölderlins Beschwörung des antiken Griechenland


Hölderlin schwärmte auf dem Höhepunkt seines Schaffens von einer Rückkehr in die Antike, in der Menschen mit der Natur eine Einheit bilden. Griechenland war geradezu der Gegenentwurf der engen bürgerlichen Welt, in der Hölderlin sein Dasein fristete.

"Daß Hölderlin trotz seiner Einsamkeit sein hellenisches Ideal durchhielt, ohne Kompromiß und ohne böse oder stumpfe Verzweiflung, mutig und selig trotz der Verbannung aus seiner inneren Heimat, glühend inmitten des Frostes und der Öde, königlich und heilig trotz der deutschen Hauslehrermisere: das macht ihn zu einem unserer heroischen Menschen."
Friedrich Gundolf, Literaturwissenschaftler (1880-1931)

Hölderlin brauchte Griechenland nicht als Fluchtort, sondern als Imaginationsraum, an dem er aufzeigen kann, welche entscheidenden Seinsqualitäten im Lauf des Geschichts- und Kulturprozesses verloren gingen und was die Zukunft wiederherstellen muss. Hölderlin brauchte Griechenland als Projektionsfläche für seine ideale Vorstellung des Menschentums.

Der bürgerlichen Welt zu Beginn des 19. Jahrhunderts fehlte der Sinn für das Leben und die Schöpfung. Verloren ist vor allem die ursprüngliche ungeteilte Einheit allen Seins, die "durch Götternähe erfüllte" Epoche der Menschheit. Verloren ist ein Idealzustand, den die griechische Philosophie mit "hen kai pan", mit "alles ist eins" umschreibt.

Es brauchte Hölderlins Beschwörung des antiken Griechenlands und seiner Götter, das einen starken Kontrast zu diesem trostlosen Zeitbefund setzte. Seine Beschwörung Griechenlands zeigt, was einst war und wieder werden soll.

Es herrscht eine große Öde in der materialisierten und ermüdeten - ja auch gedanklich erschöpfen - Gesellschaft und so müssen eben die Götter den Sinn bringen. Der moderne Mensch, so klagt der Hyperion, der Held des gleichnamigen Briefromans, ist auseinandergebrochen "und treibt hin und wieder seine Künste mit sich selbst, als könnt er, wenn es einmal sich aufgelöst, Lebendiges zusammensetzen, wie ein Mauerwerk."

Zu Füßen des Olymp wurde eine Götterwelt erschaffen. Die Götter erfüllten die Welt mit Sinn.

"Zwar leben die Götter", schreibt Friedrich Hölderlin, der seinen Kant gelesen hatte, "aber über dem Haupt droben in anderer Welt. Endlos wirken sie da und scheinen wenig zu achten, ob wir leben ..."

In verflossenen Zeiten schritten die Götter über die Erde, wandelten unter den Menschen. Aber uns modernen Menschen ist es nicht länger vergönnt, sie zu Gesichte zu bekommen, viel weniger noch ihre Liebe zu erdulden.


Friedrich - mögest du in Frieden ruhen, zusammen mit Diotima im Olymp und dort finden, was dir im Leben verwehrt geblieben ist

Weblinks:

Griechenland - Der Garten der Götter - www.3sat.de

Schöpfungsmythen der Menschheit - www.mdr.de/wissen